Die hessische Spinnstube

"Selbst gesponnen, selbst gemacht, das ist die beste Bauerntracht." Dieses Wort ist eine alte Bauernregel von hoher Bedeutung. Es führt uns in das deutsche Kulturleben der früheren Jahrhunderte, in die Zeit, als noch die Kledung der Landbevölkerung hauptsächlich aus selbstgefertigten Woll- und Leinenstoffen gemacht und zum Teil auch nach eigenem Muster geschnitten und genäht wurde.

Dauerhaftigkeit und eine für die Arbeiten des Landmannes geeignete Form der Kleidung - diese Eigenschaft will obige Bauernregel rühmen und preisen. Lange Zeit ist sie auch befolgt worden. Frauen und Mädchen ließen während der langen Winterabende in den Spinnstuben ihr Spinnrad fleißig schnurren; denn der Hausfrauen Stolz war und ist es vielfach noch heute, die Schränke und Truhen stets gefüllt zu erhalten von "schimmernder Wolle und scheeigtem Leinen". Nicht nur zu Hemden, Tisch- und Bettzeug, nein, auch zu einem Teile der Oberbekleidung lieferte der Leinenschrank die notwendigen Stoffe, und der Mädchen eifriges Bemühen war es auch, dem zukünftigen Gatten einen reichen Vorrat an Leinen und Wolle als Mitgift in den neuen Hausstand zu bringen.

So blieben die Verhältnisse bis etwas über die Mitte des vorigen Jahrhunderts (Anm.: 19. Jahrhundert) hinaus. Da trat allmählich ein Umschwung ein. In Deutschland entstanden zahlreiche Fabriken zur Erzeugung für Leinen-, Woll- und Baumwollwaren. Besaßen die hier angefertigten Stoffe auch zum Teil einen erheblich geringeren Wert als die selbsterzeugten, so waren sie doch zu jeder Zeit zu einem mäßigen Preise erhältlich, und so hielten denn dieselben nach und nach ihren Einzug in jeder Familie in Stadt und Land.

Aber dazu kam noch ein anderer Umstand, der den hohen Wert der selbstgefertigten Stoffe und Kleidungsstücke in den Augen ihrer Erzeuger allmählich herabsetzte und immer geringer werden ließ. Es war die Geringschätzung, mit der viele Bewohner der Städte auf die alten bäuerlichen Trachten herabblickten.

Daß den Landmann diese Geringschätzung seiner Eigenart in Kleidung und Brauch verletzte und kränkte, ist leicht erklärlich. Die Folge davon war, daß er schließlich ihrer schämte und allmählich begann, sich von ihr zu trennen um das Gepräge des einfältigen und "tölpischen Bauern" zu verlieren; denn daß er in seiner bis dahin bewahrten Eigenart der Träger einer alten Kultur war, wußte er ebensowenig wie der spottende "geblildete" Städter. So verschwanden denn die malerischen Trachten, die sowohl ihren Trägern als auch der betreffenden Landschaft einen so großen Reiz verliehen, mehr und mehr. Wohl erschienen die Burschen bei ihrem Eintritt zum Militär noch vielfach in ihrer heimatlichen Tracht, doch bei ihrer Rückkehr ins elterliche Haus wandten sie sich gewöhnlich von dem verspotteten Formen ab. Nur die daheim bleibenden Mädchen behielten zumeist ihre Tracht bei und wurden somit die Träger und Erhalter der alten Kultur.

So wurde denn der Verbrauch und die Nachfrage nach dem heimatlichen Leinen immer geringer; der Anbau von Flachs ließ infolgedessen nach, und zu Anfang dieses Jahrhunderts war das Spinnrad bereits in zahlreichen Familien auf dem Lande ein unbekanntes Gerät. Da brach der große Krieg aus.

Der Bedarf der Lazarette an Leinen wuchs von Monat zu Monat; die vorhandenen Vorräte verschwanden zusehends, und der Preis des Leinens steigerte sich bald zu ungeahnter Höhe. Die Zufuhr von Rohstoffen aus dem Auslande wurde durch die Blockade unterbunden, und die Not nahm einen immer bedrohlicheren Charakter an. Da kehrte der Landmann zum Anbau von Flachs zurück, und im Sommer 1919 sah man wieder auf zahlreichen Äckern die lieblichen blauen Blüten des Pflänzchens der Mädchen im Winde sich wiegen. Die fast vergessenen Spinnräder kamen wieder zu Ehren, und auch die Spinnstube erwachte zu neuem Leben und Ansehen. Versuchen wir nun, diese alte und segensreiche Einrichtung etwas näher kennen zu lernen.

Spinnstube nannte man eine Vereinigung oder ein Kränzchen junger Mädchen, die an den langen Winterabenden an einem bestimmten Orte zum Zwecke des Spinnens sich versammeln. Gewöhnlich sind es die Mädchen gleichen Alters, welche in Gruppen oder Rotten sich zusammenfinden und außer Sonnabends an jedem Abend sich vereinigen. Kurz nach dem 1. November, dem ehemaligen langen Bettage, wird die Spinnstube "festgemacht", d.h. es wird ein Haus bestimmt, in welchem dieselbe stattfinden soll; doch geht man an manchen Orten auch abwechselnd in die Häuser der sich beteiligenden Mädchen. Spinnen bildet natürlich die Hauptbeschäftigung an den Abenden; doch kommen auch andere wichtige häusliche Handarbeiten, wie Stricken und Nähen, Sticken und Flicken, zu gebührender Ehre. Während des Winters wird das Spinnrad in schönster Ordnung gehalten; der Flachs wird am Rocken durch ein reichverziertes, buntes Band umwunden und festgehalten.

Obwohl die Mädchen zu fleißiger Arbeit zusammenkommen, so erscheinen sie doch jederzeit schmuck, sauber und nett; denn an einigen Abenden der Woche gesellen sich zu ihnen die gleichaltrigen Burschen, und nun wird die Arbeit mit Scherz, Lust und anziehenden Erzählungen gewürzt. Auc wird alllerlei Neckerei und Schabernack geübt, so, wenn den Mädchen der Spinnfaden reißt und ihm nun ein Bursche zur Strafe den Rocken raubt, der dann gewöhnlich nur durch einen Kuß eingelöst werden kann; doch wird derselbe nicht so offen gegeben, wie zwischen Bräutigam und Braut, sondern wie eines der anwesenden Mädchen bestimmt, etwa durch das Geflecht eines Rohrstuhles, durch ein Taschentuch und dgl. An bestimmten Abenden, oder wenn die Arbeit es erlaubt, werden auch Spiele und Tänze veranstaltet, und unter Begleitung der Zieh- oder Mundharmonka erklingen die beliebtesten Volkslieder.

Wohl manches derselben ist auf den Boden der Spinnstuben entstanden, und so ist dieselbe nicht nur eine Stätte rühriger Arbeit, sondern auch eine Pflegerin der Poesie und des Gesanges gewesen und somit als wichtige Förderin der Kultur zu bezeichnen. Steht sie so einerseits im Dienste steter Entwicklung, so ist sie andererseits wieder eine treue Erhalterin und Bewahrerin uralter Kultur; denn Glaube, Sitte und Brauch der germanischen Vorzeit haben sich gerade in ihr überaus fest und sicher erhalten und von Geschlecht zu Geschlecht sich weitergeerbt. Noch steht in ihr die Frau Holle, Wodans Gemahlin, als Beschützerin der häuslichen Ordnung und Ehre in hohem Ansehen. Mit der Feier der Wintersonnenwende begann für die alten Germanen eine zwölftägige Festzeit, denn der unbesiegbare große Sonnengott kehrte nun wiede rzurück und brachte neues Leben und neue Freude in die Natur und die Herzen der Menschen. Jetzt beginnt Frau Holle ihren Umzug, um die Fluren zu segnen und Fleiß und Ordnung entsprechend zu belohnen. Darum wird jetzt von den Mädchen der Rocken reichlich und sauber mit Flachs oder Werg versehen und schön umwunden. Beim Anblick desselben sagt dann Frau Holle erfreut:

So manches Haar,
so manches gute Jahr.

"Zwischen den Jahren" wird das Spinnrad nicht berührt. Aber nach dieser Zeit kehrt Frau Holle wieder zurück, und daher wird jetzt der Rocken abgesponnen. Findet Frau Holle noch Flachs an demselben, dann zürnt sie und spricht:

So manches Haar,
so manches böse Jahr.

Leider sind die alten Lieder, in denen der Frau Holle gedacht wurde, jetzt verklungen und vergessen.

Bestimmte Tage des Winters werden in der Spinnstube durch eine besondere Feier ausgezeichnet. So wird in der Nacht vom 20. zum 21. Dezember die "Lange Nacht" gefeiert. Gegen das Ende der Spinnstubenzeit, wenn die Hauptarbeit geschehen ist, geht es in der Rotte oder im Chor, wie man sagt, ganz besonders fröhlich zu.

Am Matthiastage (24. Februar) sucht man durch allerlei Bräuche die Zukunft zu erforschen; denn dieser Tag gilt als vornehmlich geeignet, über den dereinstigen Lebensgefährten und die Zeit der Verehelichung etwas Näheres zu erfahren. Eine Hauptfeier findet an vielen Orten zu Fastnacht statt, wo die Mädchen abends unter dem Rufe "Flachs gerat" mit Leinknoten gefüllte Töpfe vor die Türden der verwandten und befreundeten Familien werfen. An diesem Abend bringen die Mädchen Kaffee, Zucker und Kuchen, Eier, Speck und Würste mit und bereiten ein leckeres Mahl, zu dem dann die Burschen reichlich Getränke mitliefern. Nach dem Essen wird munter getanzt.

Auch um Lichtmeß geht es wieder sehr fröhlich her. Am Sonntag nach Lichtmeß darf abends kein Licht mehr angesteckt werden, weil sonst der Flachs nicht gut gerät. Am letzten Abend der Spinnstube wird das "Licht vertrunken"; das ist eine Feier, die ihren Namen aus der Zeit führt, in der man noch das Tran- oder Hängelicht brannte. Jede Spinnstube besaß nämlich ehedem ihr eigenes Licht, das am Ende der Spinnstubenzeit verkauft wurde. Der Elrös lieferte dann zu einem Abschiedsschmause die nötigen Getränke.

Karl Heßler


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Letzte Änderung: 3.1.2001 durch Alexandra